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Gedenken an die Reichspogromnacht

Rundgang 2011 zur Erinnerung an die Pogromnacht am 9. November 1938
- Matthias Wagner -

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Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!

Heute leben in Lüdenscheid ohne Gefährdung Menschen aus hundert Nationen. 1938 lebten hier auch Menschen aus mehr als 30 Nationen. Aber man dachte und handelte nationalistisch und erschwerte Ausländern das Leben. Und 1939 wurde zu Beginn des Krieges z.B. niederländischen Geschäftsleuten die Lizenz für ihr Gewerbe in Lüdenscheid und Deutschland genommen. Unser Rundgang dient dem Nachdenken über die Ursachen von Judenfeindschaft, Rassismus und Feindbildern damals und heute.

Zuletzt hat Götz Aly sich damit beschäftigt und die These vertreten, dass es besonders die materielle Gier und Erfolgsorientierung waren, die von nicht-jüdischen Deutschen einseitig den jüdischen Mitbürgern unterstellt wurden, aber in Wirklichkeit zur Grundlage ihrer Judenfeindschaft machten.

Mit der Reichspogromnacht beginnen die 7 Jahre der Vernichtung von ca. 40 % der deutschen Juden und von insgesamt 6 Millionen jüdischen Europäern durch die deutsche Politik: mit den Diskriminierungen durch die SA und Polizei, mit der Verhaftung durch die Gestapo, mit der Enteignung durch das städtische Gewerbeamt, mit der Stigmatisierung durch das Einwohnermeldeamt mit den Zwangsnamen Sarah und Israel und der Verordnung des Judensterns, mit dem Ausschluss aus den Vereinen, aus der Stadtbücherei, aus dem öffentlichen Leben und vielen anderen Maßnahmen. Mit privaten Lastwagen, die von der Stadt angemietet wurden, deportierte man die Juden bis zum Bahnhof in Altena oder bis nach Dortmund. Von dort fuhren Sonderzüge in die Ghettos und Vernichtungslager, die von den Deutschen errichtet worden waren. In Lüdenscheid gab es 46 Todesopfer von mindestens 128 jüdischen Bürgern. Der Besitz der deportierten Juden wurde an Parteianhänger und Interessenten günstig abgegeben. So profitierten zahlreiche Lüdenscheider von der Enteignung der Deportierten.

1938 hätten wir den Rundgang nicht vom Lüdenscheider Rathaus z.B. zum Schutz der Lüdenscheider Juden starten können, weil die Politik und die Mehrheit der Gesellschaft dem Wahn verfallen war, dass jüdische Bürger die christlichen und nichtgläubigen ausnutzten, um ein gutes Leben zu führen. Dabei hatte eine staatliche Untersuchung 1927 gezeigt, dass 1/3 der jüdischen Bürger reicher war als der Durchschnitt der nichtjüdischen Deutschen, aber 2/3 ärmer.

Unser Rundgang bezieht sich auf die Geschichte Lüdenscheider und von Lüdenscheidern 1938-1942.

Knapperstraße 7

Am frühen Morgen des 10. Novembers 1938 kamen SA-Männer von auswärts - vermutlich aus Hagen oder/und Bochum - auf einem Lastwagen und zerstörten hier die letzten beiden Geschäfte, die noch von Juden geführt wurden: das Geschäft Lebenberg an der Knapperstraße 7 und das Geschäft Ripp an der Knapperstraße 17.

Das beliebte Textil- und Bekleidungsgeschäft Lebenberg wurde von Irmgard und Oskar Cahn geführt, die das Glück und das Geld hatten im März 1939 über Hamburg und Kuba in die USA flüchten zu können. Die Stadt Lüdenscheid eignete sich die Räumlichkeiten an und verpachtete sie für das Offizierscasino "Ritter am Markt" - ein denkwürdiger Namen für die ideologische Deutung der modernen Offiziere, von denen sich im Krieg viele nicht ritterlich verhielten.

Julius Ripp, der das Herrenbekleidungsgeschäft an der Knapperstraße 17 führte, wurde schon im August abgeschoben, weil er in Polen geboren war und Deutschland alle polnischen Juden des Landes verwies. So war er ein Teil der Vorgeschichte der Pogromnacht. Denn der junge Grünspan hatte aus Verzweiflung über die lebensgefährliche Lage seiner Eltern und anderer 17 000 jüdischer Polen in Feldlagern an der deutschen Ostgrenze den Botschaftsrat in Paris erschossen. Das nahm Dr. Goebbels zum Anlass, um in ganz Deutschland mit der SA, der SS, der Polizei und der Feuerwehr die verbliebenen jüdischen Geschäfte und die Synagogen zu zerstören; dabei wurden mehr als hundert jüdische Deutsche getötet. Während der Inhaftierung von Julius Ripp brachte seine Frau im Jüdischen Krankenhaus zu Köln ihren Sohn Uriel zur Welt. Das Geschäft wurde von einer Angestellt geführt. Als es zerstört war, floh die Mutter mit ihrem Baby nach Belgien. Auch Julius konnte dorthin flüchten. Aber während des Krieges traf eine Bombe das Versteck der Familie und tötete Uriel, als seine Eltern nicht in der Wohnung waren.

Wappenstein Taganrog

Hier machen wir an dem Stein für die heutige Partnerstadt Taganrog unsere zweite Station. Bevor der Holocaust in Deutschland und West-Europa begann, hatten die Einsatztruppen zusammen mit der SS und der Deutschen Wehrmacht mit den Massenmorden an Juden in Russland gleich nach dem Überfall im Sommer 1941 begonnen. Die Ereignisse in Taganrog werden von Andrej Angrick in seinem Standartwerk "Besatzungspolitik und Massenmord" so beschrieben: S. 315

Vor einem Monat konnte ich mit einem Lüdenscheider sprechen, der Mitglied der SS-Division war, die Taganrog eroberte und die Ermordung der Juden organisierte. Er erinnerte sich an die schöne Stadt am Meer und die sympathischen Menschen. Ich hatte nicht den Mut, mit ihm über den Herbst 1941 in Taganrog zu sprechen - trotz des Abstands von 70 Jahren.

Altenaer Straße 1

Leopold Kahn und seine Töchter Lieselotte und Edith flohen einen Monat nach dem Pogrom in die Niederlande und wurden dort von der deutschen Besatzungsmacht inhaftiert und am 20. Nov. 1942 nach Auschwitz in den Tod deportiert. Leopold arbeitete noch eine Zeit lang in dem benachbarten Lager Monowitz, in dem jüdische Häftlinge für die deutsche Industrie arbeiten mussten. Er trug die Häftlingsnummer 70921, bevor er ermordet wurde.

Wilhelmstraße 34

Mit dem Ende der jüdischen Gemeinde 1936 schloss auch Max Schwerin, der letzte Vorsteher der jüdischen Gemeinde sein bekanntes Geschäft. Das Schicksal des Ehepaars Max und Frenze Schwerin konnte trotz eines umfangreichen Schriftverkehrs bis heute nicht geklärt werden. Gleich daneben stand an der Wilhelmstraße 36 das Schuhgeschäft der Familie Koopmann. Die Eltern Moritz und Rosa flüchteten 1938 nach Frankfurt und wurden von dort nach Riga in den Tod deportiert. Vergeblich hatte sich der Sohn Fritz, der in die USA geflüchtet war, um eine Einreisegenehmigung dorthin bemüht. Die Tochter Charlotte konnte nach Palästina flüchten.

Altes Rathaus

Über die Abläufe im Alten Rathaus nach der Pogromnacht berichtete Hermann Behrend, der bis kurz vorher mit seiner Frau das Bettwarengeschäft Stern geführt hatte und den Nachlass der jüdischen Gemeinde betreute: "Auch ich wurde am Morgen des 10. Novembers um 6 Uhr von 2 Polizisten verhaftet. Die Beamten luden vor meinen Augen ihre Pistolen und machten mich darauf aufmerksam, dass sie bei einem etwaigen Fluchtversuch von der Waffe Gebrauch machen würden. .. Man brachte mich zur Polizeistation, nahm mir Hut, Hosenträger und alles, was ich noch bei mir hatte, ab und steckte mich in eine Zelle im Keller. Hier traf ich Gesellschaft. Herr Oskar Cahn (Inhaber des Geschäfts Lebenberg) und ein Herr Wolff aus Altena waren schon da und blieben mit mir in der Zelle. .. Am darauf folgenden Tage wurden aus der ganzen Umgebung noch viele Glaubensgenossen eingeliefert. Wir waren wohl 50 Menschen. Nun wurden wir der reizenden Gestapo übergeben. Diese Sorte Menschen sind ein Kapitel für sich. .. Unsere erste Etappe war das Gerichtsgefängnis Dortmund…, wir waren ca. 800 Juden… Am anderen Morgen wurden wir wie eine Schwerverbrecherbande von stark bewaffneten SA- und SS-Leuten sowie Polizisten eskortiert durch Dortmund geführt. Alle 5 Meter musste ein Schild getragen werden mit der Aufschrift: Wir sind die Mörder… Wir Drecksjuden sind Vaterlandsverräter und an allem Unglück schuld etc. Schließlich landeten wir am Hauptbahnhof, wo wir nach Unbestimmt verladen wurden. Daß es in irgendein Konzentrationslager ging, war uns allen klar. Aber wohin, merkten wir erst hinter Hannover - via Berlin - also Sträflingslager Oranienburg. … Auf einmal wurden die Türen von allen Seiten aufgerissen und eine Meute Bestien in SS-Uniform und Menschengestalt stürzte mit Knüppeln und anderen Schlagwerkzeugen mit dem Schrei in die Abteile ‚Seid ihr Mörderpack, ihr Drecksäue, Judenpack, Ihr Scheißhaufen usw. noch nicht draußen?' Ein Massaker setzte ein, wie es entsetzlicher nicht gedacht werden kann, es ist nicht im Entferntesten zu beschreiben. Die armen Menschen lagen haufenweise vor den Eisenbahnwagen und wurden mit Fußtritten und Knüppeln und sonstigen Gegenständen massakriert." (Kann/Wagner: Lüdenscheider Jüdinnen und Juden, S. 176)

Wilhelmstraße 58

Adolf und Emmy May hatten ein Bekleidungsgeschäft an der Wilhelmstraße58. Das gaben sie vor 1939 auf. Am 27.Juli 1942 wurden sie von Lüdenscheid nach Theresienstadt deportiert. Nach einem Nachkriegsdokument starben sie dort eines gewaltsamen Todes, nach einem anderen in Minsk/Weißrussland und nach den Angaben des Bundesarchivs in Treblinka.

Die zehn von mindestens 128 jüdischen Schicksalen in Lüdenscheid zeigen, wozu Judenhass, Rassenhass, Gewalt, Respektlosigkeit und Überlegenheitswahn in Deutschland führten, das nach der Anzahl der Nobelpreisträger gemessen die führende Kulturnation in der Welt war.

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